Editorial 1: „Jesus loves you more than you will know“

“Jesus loves you more than you will know”

Liebe Lesende, wir wissen, dass die meisten von Ihnen die 40 und nicht wenige auch die 50 überschritten haben. Wir wissen das, weil wir Sie gesehen haben. Ja, genau Sie … Wir haben Sie gesehen bei unseren Unterschriftensammlungen, wir haben Sie gesehen, als Sie am 24. Januar in der Passionskirche gemeinsam mit uns den Ausführungen des Storck und anderer evangelisch-atheistischer Hassprediger folgten. Wir haben Sie gesehen, als wir im Gebüsch der Bergmannfriedhöfe auf Lauer lagen, um mit Genugtuung zu verfolgen, wie Sie den teuflischen Einflüsterungen unserer Kommunikationsversuche folgten, wie die trüben Augen so mancher hier und da ein gar nicht mal so verhohlenes Glimmen erkennen ließen. War es ein Glimmen der Hoffnung, der Erwartung oder war es nur unsere illusionäre Selbsttäuschung total Bekiffter. Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren. Inschallah …

Wie bei den meisten über vierzig, liebe Lesende, handelt es sich auch bei Ihnen – ebenso wie übrigens bei uns – um Geflüchtete und Geflohene zugleich. Die meisten von uns tragen traumatische Wunden, die nur schwer von den dezimeterstarken Decken unserer Wunscherinnerungen gelindert und verborgen werden, mit sich. In Zeiten genderkritischer Befragungen der oftmals schwindelerregenden Konstruktionen des Selbst und der Identitäten wollen wir heute einmal den Finger in eine unstillbare Wunde männlichen Weltbewusstseins legen. Alte Westberliner erinnern sich noch an die melancholischen Rummelplätze westdeutscher Provinzmetropolen mit ihren Karussells, Luftgewehrschießbuden und salmonellenverseuchtem Softeis. In jener, heute in magischer Entrückung verharrenden, Welt hat so mancher von uns Dinge erlebt, die erst bei der Erwähnung anspielungsreicher Stichwörter wie Raupe, grüne Zeltbahn und Creedence Clearwater Revival aus dem verordneten Tiefschlaf des Unbewussten erwachen. Die zentrale Attraktion jener Rummelplätze war ein Karussell, das Jungen wie Mädchen gleichermaßen die Raupe nannten. Kleine Wagen bewegten sich auf einer runden Spur langsam eine Anhöhe hinauf um danach mit verstärkter Geschwindigkeit hinab zu sausen und das so gewonnene Tempo beim erneuten Anstieg wieder etwas einzubüßen. Wer die Aufbauten eines solchen Karussells betrat, nahm auf der linken Seite die Gruppe der Mädchen wahr, auf der rechten die der Jungen. Das Spiel ging nun so: Einzelne Jungen lösten sich aus ihrer identitären Stammhorde und sprachen Mädchen an, wolln wir nich mal ne Fahrt …  Wenn das Mädchen eingewilligt hatte, ging das Abenteuer los. Auf und nieder bewegten sich die Wagen, dabei künftige Wonnen bestenfalls andeutend. So diskret waren damals die Zeiten.

Dann, als Höhepunkt, erhob sich eine grüne Zeltbahn, die im inneren Rand des Karussellzirkels angebracht war, erhob sich mehr und mehr, um schließlich über die Wagen hinweg zu stürzen und das gesamte Karussell mit einer grünen Oberfläche zu bedecken. Daher wohl auch die für Heutige ein wenig erratische Bezeichnung: die Raupe. Wie eine große Raupe ohne Kopf, wie die Inkarnation staatsbürgerlichen Fortschritts, drehte sich das Karussell und drehte sich … Nach ungefähr ein bis zwei Minuten hob sich die grüne Zeltbahn wieder, die Außenstehenden schauten neugierig auf die Wageninsassen und tatsächlich, nicht wenige Paare küssten sich oder hatten sich zumindest umarmt, was seinerzeit vor allem bedeutete, der Arm des Jungen lag auf der Schulter des Mädchens. Das war bei den meisten der Paare so. Zu den wenigen, die den Sprung in die temporäre Intimität nicht geschafft hatten, gehörten damals auch Thomas und Aysche. Nein, eigentlich hieß sie gar nicht Aysche, sondern Funda, wie manche von uns glaubten, obwohl Funda für andere der Name ihrer großen Schwester war. Für Thomas jedenfalls dürfte Funda durchaus der richtige Name für das entzückende Geschöpf neben ihm gewesen sein. Als sich die grüne Zeltbahn über den beiden gesenkt hatte, versuchte Thomas mit dem rechten Arm Funda an sich zu ziehen, während sein linker sich sanft ihren Brüsten näherte. Aus den Boxen ertönte laut die Stimme Paul Simons: „Jesus loves you more than you will know. Hou hou hou.“ Was auf Thomas wohl ermutigend gewirkt haben dürfte. Doch mit unerwarteter Entschlossenheit wandte Funda sich brüsk von ihm ab. „Bist du verrückt?“ zischte sie. „Da draußen stehen meine Brüder.“ Was immer man sich unter Phrasen wie „Ich war wie vor den Kopf geschlagen“ auch vorstellen mag, Thomas war dies in diesem Moment in der Tat. Schnell erhob sich die grüne Zeltbahn wieder über den Paaren und benommen betrat Thomas die wackligen Planken des Karussell-Aufbaus. Flüchtig konnte er noch wahrnehmen wie Funda unter den Umstehenden verschwand. Nun ertönte die Stimme John Fogertys, des Frontsängers von Creedence Clearwater Revival: „I see a bad moon on the rising I see the end is coming soon.” Ja, so ist es wirklich, dachte Thomas, und war überzeugt, diese seltsame Koinzidität würde ihm, in welcher Form auch immer, später im Leben noch begegnen. Den Rummelplatz verließ er bald mit der Bitterkeit des Geflohenen, obgleich er im Innern überzeugt war, eher ein Geflüchteter zu sein.

Nun, liebe Lesende, wollen wir es für heute mit dieser Reminiszenz aus dem Segment der niemals erwachsen werdenden Männer belassen und erst mit einem späteren Beitrag die Stirn aufbringen, Ihnen Vergleichbares aus der Welt der Frauen und Mädchen zuzumuten. Aber schon jetzt werden Sie, ebenso wie hoffentlich auch wir, gemerkt haben mit welch einem unheilvollen Gewirr von Verstrickungen ein unvoreingenommener Mensch angesichts von Fluchtursachen konfrontiert ist. Ja, es ist traurig, banal und beschämend: Was diese Dinge betrifft, hätten wir uns alle viel zu erzählen. Alle, Hassprediger wie Mitläufer, Muttis junge Antifa-Garde und kritische Zeitgenossen wie wir – und der Rest auch.

Damit starten wir unsere Website, die in Zukunft hoffentlich durch eine anschwellende Zahl von Beiträgen sich präsentieren wird. Genießen Sie’s, verdammen Sie’s, trinken Sie was oder dröhnen Sie sich mit veganer Pampe voll. Wie auch immer. Wir sehen uns.

Die Redaktion.           (als PDF öffnen)

Bergmannfriedhoefe.de – 21. Juni 2017